Warum wir es nicht schaffen, gesund zu bleiben

vandalay / photocase.comMehr als wir verdauen können, Strategien zum Umgang mit der Informationsflut. Unter diesem Motto hatte der aid, der Infodienst für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz e.V. zum diesjährigen Forum eingeladen und 300 Personen waren gekommen. Abgesehen von dem nicht kleinen Wermutstropfen wie fehlenden Parkplätzen und einem viel zu kleinen, und in seinem 70er Jahre Chic nicht zu unterbietenden Raum, war es eine großartige Veranstaltung. Nachhaltig beeindruckt hat mich der Vortrag von Prof. Dr Christoph Klotter, (Dipl. Psych., Psychologischer Psychotherapeut). Er ist Professor für Ernährungspsychologie und Gesundheitsförderung an der Hochschule Fulda sowie Dekan des Fachbereiches Oeocotrophologie. Forschungsschwerpunkte: Adipositas und Gesundheitsförderung

Sein Vortrag trug den Titel „Warum wir es nicht schaffen, gesund zu bleiben“.

Zuerst räumte er mal mit der Überzeugung auf, wir würden immer kränker. Das Gegenteil ist der Fall:

• Die Lebenserwartung steigt immer noch

• Trotz älter werden erwarten uns mehr behinderungsfreie Jahre als früher

• Adipöse leben deutlich länger als noch vor 30 Jahren, mit Ausnahme der Diabetiker.

Unsere Wahrnehmung ist jedoch eine andere, und dass es immer noch Tod und Leiden gibt, kollidiert mit dem Anspruch der Moderne durch Fortschritt Tod und Leid zu minimieren, und eines Tages zu eliminieren. Da uns dies aber immer noch nicht gelungen ist, bleibt ein unterschwelliges Gefühl des Scheiterns zurück.

Zudem sehen wir uns einer ständigen Wertekonkurrenz gegenüber. Die Nachwirkungen der bürgerlichen Aufklärung (Vernunft und Fortschritt) und der Romantik mit ihrer Todessehnsucht und der Abenteuerlust. Übertragen auf die heutige Zeit heißt das: Im Beruf rational, zielstrebig und fleißig im Privaten die Freiheit und das Risiko (z.B. durch extreme Sportarten die immer mehr an Zulauf gewinnen) auskostend. So sind wir gefangen im Spannungsfeld zwischen planerisch, gesund und gefährlich.

Das Ganze findet vor dem Wirtschaftssystem des Kapitalismus statt, der als Heilsversprechen das Schlaraffenland im Hier und Jetzt postuliert. Esse so viel du kannst, bewege dich so wenig wie möglich und konsumiere rund um die Uhr. Dem gegenüber steht der von Max Weber umrissene Geist der protestantischen Ethik, der radikale Askese fordert.

Prof Klotter führt weiter aus, dass die moderne Gesellschaft postuliert, dass es die Pflicht der Bevölkerung ist, gesund zu bleiben. Der Hintergrund ist, dass die Stärke des Staates von der Gesundheit seiner Bevölkerung abhängig ist. Diese Pflicht zur Gesundheit wurde auch in der Erklärung von Alma Ata fest geschrieben.

Jetzt ist es aber ein Wesensmerkmal von Menschen, dass sie sich nicht gerne etwas vorschreiben lassen. Eine Revolte gegen die Gesundheit wird daher schon fast zur Pflicht, da wir dem Staat die Kontrolle über unseren Körper nicht überlassen wollen. Gesundheit als Pflicht stellt eine massive Grenzverletzung des Staates dar.

„Was zur Pflicht erklärt wird, erhöht die Lust an der Übertretung“. Und die Übertretungen kann man 1000 fach beobachten. Saufgelage am Oktoberfest, Fressorgien an Weihnachten, Koma saufen bei Jugendlichen.

Die Lehren der Ernährungsexperten, die das gesunde Leben predigen ,werden auch noch aus weiteren Gründen nicht gerne gehört. Stehen sie doch auf der Seite des Mangels und des Verzichts. Zudem ist die gesamte Ernährungsdiskussion weiblich (ein Blick in den Saal beim aid bewies dies, von ca. 300 Anwesenden waren vielleicht 10 Männer). Frauen die gesunde Ernährung predigen erwecken oft die Assoziation der mütterlichen Autorität, der man ja an einem gewissen Punkt im Leben entronnen sein sollte, um nicht ewig im Kindstatus hängen zu bleiben.

Ein weiterer Faktor ist das Triebhafte des Essens. Früher wurde die Sexualität unterdrückt, heute ist es der Nahrungstrieb.

Auch dass gegen Menschen mit Adipositas ein regelrechter Krieg geführt würde, ist der Sache nicht gerade förderlich. Die Dicken nehmen die Kriegserklärung auf und reagieren entsprechend.

Ich fand diesen Vortrag ungemein erhellend. Mich hat die Vehemenz mit der für gesunde Ernährung und gegen dicke Menschen gekämpft wird schon immer mit Unverständnis erfüllt.

In so vielen gesellschaftlichen Bereichen riskieren Menschen auch Leib und Leben, nicht durch Übergewicht. Sei es durch Sport, übermäßigen Alkoholgenuss oder durch exzessives Arbeiten. Vieles, was eben so gefährlich ist wie eine ungesunde Ernährung, wird eher mit Bewunderung als mit Abscheu registriert, nur bei dicken Menschen schwingen sich viele von uns als Moralapostel auf.

Die Ansätze warum das so ist, haben mir wirklich die Augen geöffnet.

Ich freue mich auf eine angeregte Diskussion.

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10 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Also den ersten Teil finde ich schon mal sehr gut. Diese These, dass wir heute immer kränker werden und uns alle nur vergiften wollen, geht mir schon länger auf den Keks.

    Das Ganze findet vor dem Wirtschaftssystem des Kapitalismus statt, der als Heilsversprechen das Schlaraffenland im Hier und Jetzt postuliert. Esse so viel du kannst, bewege dich so wenig wie möglich und konsumiere rund um die Uhr. Dem gegenüber steht der von Max Weber umrissene Geist der protestantischen Ethik, der radikale Askese fordert.

    Das stört mich allerdings. Für jemanden, der in einer Großstadt lebt, ist das mit dem Konsumieren rund um die Uhr tatsächlich kein Problem. Aber muss ich das deswegen tun? Muss ich etwas kaufen oder essen, nur weil es da ist? Ich finde es immer etwas befremdlich, die Begründung für eigene bekloppte Handlungen bei einem recht anonymen Etwas zu suchen, sei es der Kapitalismus oder eben ein Konzern. Wenn ich einkaufen gehe, kaufe ich das, was ich so täglich brauche wie zB. Brot, Gemüse, Getränke usw. Wenn ich darüber hnaus noch 10 Tüten Chips und nen Kasten Bier kaufe und das dann in zwei Tagen weg ist, war ich das doch, oder? Wenn ich mal einen trinke und am nächsten Morgen etwas zerknittert aus der Wäsche gucke, dann war das doch nicht die Gesellschaft, die mir das eingebrockt hat, sondern ich selbst, oder?

    Natürlich soll man sich nicht IMMER rational verhalten, ab und zu muss auch mal etwas völlig Verrücktes sein. Eine gewisse Selbst-Reflexion, wie etwas zu Stande gekommen ist, kann aber manchmal wirklich nicht schaden. Das erinnert mich manchmal an den Spruch: Ich hab den nicht gehauen, der ist einfach nur unvorteilhaft gegen meine Faust gelaufen.

  2. Ja so ist das, dort wo wir nicht betroffen sind, fällt es immer leicht sich moralisch zu erheben. Der „unrealistische Optimismus“, was die eigene Person betrifft (aus dem Vortrag von Frau Dr. B.Renner), spielt hier wohl mit eine Rolle.
    Mir hat der Vortrag von Klotter auch Spaß gemacht. So ist es recht, an den Grundfesten rütteln und zweifeln, nur so kommt man zu neuen Ansätzen.
    Und diese, also die neuen Ansätze, hat die Ernährungsberatung und Gesundheitsprävention mehr als nötig. Dies ist auch eines unserer Hauptanliegen mit unserem Projekt http://www.jetzt-ess-ich.de
    (hoffe Du verzeihst ein wenig Werbung für unser nicht kommerzielles Projekt;-)
    Pfingstmontagsabendgrüße
    Konstanze

  3. Dein Beitrag passt ziemlich genau in zwei Thematiken, die mich derzeit beschäftigen:
    Zum Thema „Körperintelligenz“ habe ich kürzlich gebloggt unter http://michallein.wordpress.com/2010/05/17/adhs/ und dabei ist mir erstmals wirklich deutlich geworden, dass Nahrungsaufnahme nicht ausschließlich für „dick oder dünn“ verantwortlich ist, sondern auch (und vielleicht sogar vor allem?) für das persönliche Wohlbefinden.
    Zum Thema Übergewicht kann ich selbst ein Lied singen, kämpfe ich doch seit Jahren mal mit mehr, mal mit weniger Elan dagegen an. Dabei bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass ich mich nicht dann am besten fühle, wenn ich am wenigsten wiege, sondern dann, wenn ich mich bewusst ernähre und dabei auf ausreichend Bewegung achte. Tatsächlich hat der Faktor Bewegung einen deutlich positiveren Einfluss auf mein persönliches Wohlbefinden als meine Essensauswahl.
    Besonders interessant finde ich, dass sogar der wissenschaftliche Ansatz den Faktor „Auflehnung gegen Dogmen“ berücksichtigt. Auch da kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass ich auf (sicherlich gut gemeinte) Aufforderungen, mein Gewicht zu reduzieren, eher mit Trotz als mit Enthusiasmus reagiere.

  4. Danke für Eure Kommentare

    @Sören ich fand die These mit der Beeinflussung durch die kapitalistische Grundstimmung sehr einleuchtend, und es deckt sich auch mit dem was ich beobachte. Viele Menschen hängen ihr Glück an den Konsum und fast nur noch daran. Natürlich hast du auch damit Recht, dass jeder noch selbst entscheiden kann. Die Frage ist, nehmen die meisten Menschen überhaupt noch wahr, dass sie aus diesem System und dieser Haltung aussteigen können, oder nehmen sie es als unabdingbar.

    @Konstanze schade, dass wir uns auf der Veranstaltung nicht kennengelernt haben. Und klar darfst du auf dein Projekt aufmerksam machen, du hättest sogar auch auf dein Blog hinweisen können: http://www.genugda.de/ 🙂

    @all Konstanze hat übrigens sehr lesenswert auch über die restlichen Vorträge des aid Forums geschrieben http://blog.jetzt-ess-ich.de/?p=281

    @Yvonne Dein Artikel hat mich wirklich tief beeindruckt, vor allem weil ich schon immer an die Körperintelligenz geglaubt habe. Und ich finde es auch total bescheuert, wenn andere Menschen einem sagen wollen wie man perfekt wäre. Sich selbst in seiner Haut wohlfühlen, das ist wichtig.

  5. Weiß nicht. Ich denke zwar schon, dass ich eine Art Empathie besitze, also in der Lage bin, mich in die Gefühlswelt anderer Menschen hineinzuversetzen, aber hier komme ich über meinen persönlichen Pragmatismus nicht hinaus.

  6. Danke, Andrea, für Deinen Artikel.

    Ich drehe mich immer im Kreis mit den ewigen Selbstvorwürfen, jetzt endlich doch weniger zu essen, besser auszuwählen, mehr Sport zu machen… nichts davon hilft wirklich. Ich hatte ja keine Ahnung, dass da draußen so viele allgemeine Stimmungen einen Einfluss auf mich haben… es klingt alles so einleuchtend.

    Und im Sinne von „Connect“ ist es dann ja auch überhaut gar nicht mehr so einfach, aus diesem „Schwarm“ auszusteigen. Wo sollte ich denn überhaupt Menschen finden, die nicht oder wenigstens weniger von diesen allgemeinen Themen beeinflußt sind?

    Tja – und was mache ich jetzt, damit das alles nicht als eine gigantische Entschuldigung zum „Weiter so wie bisher“ dient? Was kann ich wirklich ändern?

  7. Ich hab ja bei FB schon meinen Senf zum Thema gegeben. Der Blogpost ändert meine Meinung dazu auch nicht wirklich, jedoch möchte ich sie etwas präzisieren:

    Jeder Mensch hat meines Erachtens das Recht, außerhalb sozialer Wechselwirkungen und Vernetzungen mit seinem Körper zu tun und zu lassen, was er will. Sei es Rauchen, Trinken, der Konsum anderer Drogen, oder eben übermäßiges Essen. Solange es nur ihn/sie betrifft, mag das Diktat der Gesundheit ein solches bleiben und muss nicht aufgenommen werden. Hier würde Wahlfreiheit den „Schönheitsterror“ unserer Zeit sicher aushebeln.

    Würde. Genau hier setzt aber die Realität ein. Kein Mensch lebt heute außerhalb eines sozialen Netzes, und/oder hat keinen Einfluss auf andere über seine Verhaltensweisen. Fakt ist, dass die Kosten für die Folgeerscheinungen von (nicht nur schwerer) Fettleibigkeit (und Rauchen, Trinken, Drogenkonsum im Allgemeinen) enorm sind (ca. 5 Milliarden Euro in 2005, http://www.pressetext.de/news/050401048/fettleibigkeit-verursacht-kosten-in-milliardenhoehe/), und getragen weden sie von allen Mitgliedern des sozialen Netzes. MÜSSEN sie getragen werden. Und noch wichtiger ist, dass viele übergewichtige Eltern ihr Ernährungsverhalten auch ihren Kindern aufbürden und vorleben. Das grenzt an Körperverletzung und ist fahrlässig (http://gesundheitsnews.imedo.de/news/1014107-adipositas-im-kindes-und-jugendalter). In letzterem Link wird gar davon gesprochen, „dass die ernährungsmitbedingten Krankheiten mit weit über 70 Milliarden Euro an den Kosten des deutschen Gesundheitssystems beteiligt sind.“

    Ich war selbst mal deutlich übergewichtig, und wohl habe ich mich damit auch nicht gefühlt. Weder körperlich noch seelisch. Und jeder der mir was anderes erzählt erntet erst mal ein erkennbares Stirnrunzeln… 😉

    Alles in allem kann man sich wie gesagt zwar trefflich über Ästhetik streuten, nicht aber darüber, dass die Auswirkungen der Adipositas für die Gesellschaft indirekt und viele ihrer unmündigen Mitglieder direkt negative Folgen hat. Wir schützen unsere Kinder vor Tabak- und Alkoholkonsum, nicht aber vor minderwertigem Essen und übermäßigem Konsum davon. Warum?

  8. @Claudia: Ich war mit etwa 12-15 Jahren etwa 20 Kg über dem als „normal“ bezeichneten Gewicht. Davon runtergekommen bin ich, indem ich deutlich weniger Süßigkeiten und süße Nahrungsmittel zu mir genommen habe, und auch etwas mehr körperliche Bewegung hatte. Natürlich bin ich gerade in dieser Zeit auch viel gewachsen, so dass ich wohl vor allem „rausgewachsen“ bin..

    In den letzten Jahren war ich 2-3 mal auf über 100 Kilo (bei 1,96 m Körpergröße) und habe es durch Sport und bewusstere Ernährung wieder auf ca. 90 Kilo geschafft. Disziplinlosigkeit, vor allem was den Sport angeht, ließ bei mir leider das Gewicht wieder recht schnell steigen. Zur Zeit befinde ich mich wieder auf dem abnehmenden Ast 😉 mit 3-4 mal pro Woche Krafttraining und Laufen, kombiniert mit vollwertiger Ernährung, bei der ich durchaus auf Kalorien achte und einen milden Low-Carb-Ansatz verfolge.

    Generell würde ich vorziehen, statt von „Übergewicht“ von „erhöhtem Körperfettanteil“ zu sprechen – denn bei hohem Muskelanteil können z.B. bei mir auch über 100 Kg vollkommen in Ordnung sein. Der Körperfettanteil ist meines Erachtens der deutlich aussagekräftigere Maßstab als das reine Gewicht bzw. der BMI als größenrelationale Einheit (der für Männer wegen der grundsätzlich größeren Muskelmasse sowieso quatsch ist).

  9. Danke Michael, für Deine offene Antwort.

    Ich finde, der BMI ist auch für uns Frauen Quatsch. In „Lizenz zum Essen“ hat Gunter Frank sehr gut dargelegt, warum der BMI nur eine Achse in einem Koordinatensystem bedienen kann. Die andere Achse ist die Veranlagung bzw. der Körperbau. Wer athletisch veranlagt ist, für den hat der BMI keine Aussagekraft – wegen der deutlich höheren Muskelasse, wie Du ja schon richtig bemerkt hat.

    Ich habe glücklicherweise gerade heute, als ich wieder mal in Versuchung geriet, mir selbst etwas vorzujammern, diesen Blogartikel und die vielen zugehörigen Links gefunden…

    Und ich habe mein Trampolin reaktiviert.

    Viele Grüße!
    Claudia

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